BÖZBERG
Ein Schweizer-Land-Krimi. Seit dem 1. November 2023 monatlich 1 Kapitel.
Von Stephan M. Porchet-Pagnoncini
KAPITEL 6 - AUF UND DAVON
KAPITEL 6 - AUF UND DAVON
„Raus“ befahl Joris Janssen den drei Frauen im Pole Star, ohne sich umzudrehen. „D…D…Danke, Joris“, sagte eine davon. „Schon gut“, sagte er nervös mit seinen Fingern auf das Lenkrad trommelnd. „Los jetzt, los!“, sagte er nochmals bestimmt. Die Drei stiegen aus, die Autotüren knallten zu und der Kommissar beschleunigte lautlos sein Elektroauto und fuhr in Richtung Thalheim. Der vor kurzem eingesetzte Regen wurde immer stärker. Die Damen standen wie begossene Pudel Eingangs Schinznach-Dorf und schauten den roten Rücklichtern von Janssens Auto nach. Eine von den Dreien deutete mit dem Kopf auf die ein paar Meter die Strasse hochliegende Tankstelle bei der Autogarage. Eilends suchten sie Schutz vor dem Regen unter dem Vordach und warteten nervös auf die anderen Vier. Jedes heranfahrende Auto musterten sie genau. Eine von ihnen kramte in ihrer Handtasche nach einer Packung Zigaretten. Sie nahm sie hervor, klopfte eine heraus, steckte sie sich in den Mund und zündete die Zigarette mit dem Feuerzeug, welches sie ebenfalls aus der Handtasche klaubte, an. Genüsslich inhalierte sie den Rauch. „Auch eine?“, fragte sie die beiden Anderen. Beide winkten ab und setzten ein gezwungenes Lächeln auf. Wieder rauschte ein Fahrzeug an ihnen vorbei. Nervös tigerten die Frauen an der Tankstelle auf und ab. Plötzlich tauchte das Aare-Taxi auf und hielt direkt vor Zapfsäule Nummer 3. Die Schiebetüre des Minivans öffnete sich und eine Frauenstimme aus dem Inneren des Wagens rief ihnen zu: „Los, steigt ein, wir müssen weg von hier!“ Die wartenden Frauen zögerten keine Sekunde und hüpften eine nach der anderen in den Van. Sie setzten sich und schnallten sich an. Der Taxifahrer drehte sich nach hinten: „Und, wo solls jetzt hingehen?“ Die Beifahrerin rührte sich nicht. Drehte nicht einmal den Kopf in seine Richtung, sondern schaute stur weiter geradeaus durch die Windschutzscheibe. Hätte man ihr Gesicht gesehen, dann hätte man festgestellt, dass einzig ihre beiden Augäpfel den Bewegungen der Scheibenwischer folgten. Ohne eine Miene zu verziehen, sagte sie kühl und trocken: „Basel!“ „Okay“, entgegnete der Fahrer und drehte sich wieder zurück. Er setzte den Blinker links und fuhr zurück auf die Strasse. Die sechs Frauen im Fond des Vans schauten sich verdutzt an, zuckten mit den Achseln und blieben schweigsam. Schnell war das Taxi auf dem Bözberg und fuhr durch den jetzt Sintflut artigen Regen weiter talwärts ins Fricktal.
Kurz bevor das Taxi Brugg passierte, erreichte Joris Janssen sein Zuhause. Den Römerhof oberhalb von Schinznach-Dorf. Er fuhr auf den Hofplatz, sprang aus dem Wagen in den Regen, hastete über den Schotterplatz eilig zum Scheunentor, öffnete beide Flügel und rannte zurück zum Polestar. Er fuhr in die Remise des Hofes, parkte das Auto und schloss hinter sich wieder das grosse Tor. Er ging zielstrebig durch den Schopf hindurch bis er in einen Raum mit grossen, alten, aber leeren Holzfässern zur Weinlagerung kam. Er marschierte durch diesen Raum hindurch. Dies, obwohl die Beleuchtung schwach und düster war und nur in der Mitte des Raumes mit einer altersschwachen Glühbirne beleuchtet war. Janssen hätte den Weg auch in völliger Dunkelheit gefunden. Am Ende der Fässerreihen huschte er durch eine Türe in den alten Pressraum. Noch immer stand die grosse, schwere Bucherpresse seit Jahren unbenutzt da und fristete ihr Dasein. Zügig eilte Joris zur Türe, öffnete diese und knallte sie wieder zu. Hinter der Scheune stand ein alter, schwarzer VW-Transporter. Der Aufbau hatte keine Fenster, aber auf der Seite des Beifahrers eine Schiebetüre und eine grosse Heckklappe. Auffällig war der Aufbau des Kühlaggregates auf dem Dach. Janssen entfernte das eingesteckte Stromkabel, schloss die Schutzklappe, stieg ein und steckte den Zündschlüssel ins Schloss. Klirrend sprang der alte VW Bus T3 an. Er legte den Rückwärtsgang ein, setzte zurück, drückte die Kupplung tief durch, hebelte knarrend den ersten Gang ein und trat aufs Gas. Er fuhr hoch über dem Aaretal durch die Schinznacher Rebberge. Die Scheibenwischer des alten Bullys gaben ihr Bestes, um das Wasser von der Windschutzscheibe fernzuhalten. Ohne Licht schlich er durch die Reben und entschwand schliesslich im Chalmer Wald.
Wie in einem Klipp-Klapp Film fuhr Samira Burgstaller und Hauptkommissar Kurt Häusermann auf das alte Weingut „Römerhof“, welches hoch über Schinznach thronte. Denn exakt in dem Moment, als Joris Janssen mit seinem alten VW-Transporter im Chalmer Wald verschwand, erreichten die beiden Polizisten das Anwesen der Janssens. Sie parkte den Polizeiwagen direkt vor dem Haus, schaltete den Motor aus, drehte sich nach hinten und griff in den Fussraum im Fond. Lächelnd zauberte sie einen Schirm hervor, Häusermann strahlte sie an. Sie stiegen wortlos aus, schlossen die Türen und Burgstaller rannte zur Beifahrerseite, wo sie den geöffneten Schirm schützend über sie beide hilft. „Danke“, sagte Kurt etwas verlegen und deutete mit der linken Hand zur grossen, alten Türe des stattlichen Aargauer Fachwerkhauses. Sie gingen über ein paar alte Sandsteinstufen ein paar Tritte nach oben, durchquerten einen kleinen, ungepflegten Vorgarten und erreichten schliesslich die Türe. „J. J.“ stand auf dem Schild. Häusermann klingelte und polterte anschliessend mit der Faust gegen die schwere Türe. „Joris Janssen, mach auf, verdammt nochmal“, brüllte der gegen die Türe. Samira beobachtete, wie eine Katze aus der Katzentüre schlich und mit erhobenem Schwanz auf sie zukam und um ihre Beine strich. Es rührte sich nichts. Kein Geräusch war zu hören ausser dem sanften Schnurren der Katze. „Mist, wo steckt der denn“, schimpfte Häusermann, drehte sich zu seiner neuen Assistentin und sah, wie diese mit der Katze spielte und sie streichelte. Sein Ärger verfolg sofort und er wurde wieder weicher. „Was meinst du, Samira“, sagte er fast schon flötend. „Sollen wir uns mal ein bisschen auf dem Hof umsehen?“ Burgstaller nickte und lächelte ihn an. Ja, Kurt merkte, wie er diese Aufmerksamkeit brauchte und wie sehr ihm diese gefehlt hat. „Na dann, auf gehts“, sagte er einladend und hüpfte wieder unter ihren Schirm. Der Regen hatte nachgelassen und ging in einen feinen Niesel über. Die Schinznacher Kirchturmuhr, welche in der Ferne zu hören war, schlug zwölfmal. Es war Mittag.
Janssen fuhr durch mit zwitscherndem Motor seines VW-Busses entlang dem Linner Berg durch den Wald oberhalb von Schinznach. Zielstrebig, denn Joris kannte dieses Gebiet wie aus der Westentasche. Via Möösere verliess er genau auf sechshundertsechundsechzig Meter über Meer den Wald und kam auf offenes Gelände. Die Buechmatt, wie das Gelände hiess, gehörte zum Landbesitzt der Janssens. Kurz nach dem Verlassen des Waldes stand rechter Hand eine unscheinbare Scheune. Er lenkte den Bus mit genügend Abstand vor das Tor, kuppelte das Getriebe aus, zog die Handbremse, öffnete die Türe und sprang auf den knirschenden Jurakies. Er griff in die Tasche seiner Jacke und holte einen grossen, alten und schweren Bartschlüssel heraus. Er steckte ihn in das alte schmiedeiserne Schloss und drehte. Einmal. Zweimal. „Klack. Klack“, war zu hören. Er drückte die Klinke hinunter und öffnete den rechten Flügel, zog die Verankerung aus dem Linken und schwang auch diesen auf. Zügig ging er zum Bus, hockte sich wieder ans Steuer, legte den ersten Gang ein, löste die Handbremse und fuhr vorsichtig in den Schopf. Er schaltete den Motor aus, sprang raus, knallte die Fahrertüre zu und schloss hinter sich das Tor. Für einen kurzen Moment war es stockdunkel. Gekonnt tastete sich Janssen an der Wand zum Lichtschalter, drückte den Knopf und sogleich starteten flackernd die alten Neonröhren hoch oben an der Scheunendecke und warfen ein fahles Licht nach unten. Der Raum war komplett bis zu einer Höhe von etwas zwei Metern mit Fliessen gekachelt. Direkt vor dem VW-Bus war eine Schienenkonstruktion mit Haken an Rollen an den Holzbalken befestigt. Die Schienen gingen offenbar durch die schwere Türe in den Raum dahinter. Joris kletterte über eine kleine Leiter auf die Rampe zwischen dem Auto und den beiden Türen. An einer von Ihnen klebte noch eine alte, vergilbte Beschriftung. „Störmetzgerei Janssen“, war darauf zu lesen. Janssen wollte gerade den Hebel der schweren Metalltüre nach unten kippen, als sein iPhone klingelte. Er griff in die Gesässtasche seiner Hose, zog es hervor, kuckte darauf und schleuderte das Telefon sogleich auf den Plattenboden. „Du kannst mich mal“, schrie er in die Garage, während sein iPhone in mehrere Teile zersplitterte und den Geist aufgab. Mit einem Zischen öffnete er die Türe, trat ein, zog sie hinter sich zu und bewegte den Hebel wieder nach oben. Nach zwei Minuten erlosch das Licht im Vorraum automatisch.
„Geht nicht ans Telefon“, sagte Kurt zu Samira, während sie um das stattliche Fachwerkhaus herumgingen. „Hmmm“, entgegnete die junge Polizistin und ergänzte trocken: „Vielleicht will er ja nicht gefunden werden.“ Häusermann stoppte, schaute sie etwas verwirrt an, überlegte und fragte nach: „Wie meinst du das?“ „Ist doch schon komisch, dass Joris die Damen so schnell vom Gelände im Schachen geschafft hat. Weder von ihm noch von den Frauen haben wir gerade irgendeinen Anhaltspunkt über den Aufenthalt“, plauderte sie darauf los, während sie weiter über das Gelände liefen. „Hmmm, von der Warte aus habe ich das noch gar nicht betrachtet“, entgegnete der Polizist stutzig. „Ich meine ja nur“, sagte Samira. „Mach nur weiter“, antwortete Kurt. Dazu kam sie aber nicht. Denn sie waren nun auf der Rückseite des Hauses angelangt, dort wo Janssens VW Bus gestanden hatte. Joris Pole Star stand hier und war mit dem Ladekabel der Station an der Wand verbunden. Beide schauten sich erstaunt an und versuchten die Hintertüre zu öffnen. Zu ihrer Verwunderung liess sich diese öffnen. Häusermann gab Burgstaller ein Zeichen, die Holztüre aufzuziehen. Kaum war diese offen, rief er hinein: „Joris, bis du da…, Joris?“ Keine Antwort. Er ging ins Gebäude, Samira folgte ihm und drehte an einem alten, schwarzen Lichtschalter. Eine Reihe von Glühbirnen in alten Porzellanfassungen begann ihren Dienst. Sie folgtem dem Flur. Links und rechts waren Holz- und Plastikkisten aufgestapelt. Sie alle trugen ein schwarzes Logo: „Thijs Janssen Weinbau Schinznach“. „Das war einmal“, sagte Häusermann als sie daran vorbei gingen. „War?“, fragte Samira. „Joris` Mutter verschwand vor ungefähr zehn Jahren spurlos und sein Vater beging ein paar Jahre später Selbstmord. Seither sind die Janssen Reben an andere Schinznacher Weinbauern verpachtet. Joris wollte nichts mit dem Weingeschäft zu tun haben.“ „Aha“, entgegnete die Polizistin trocken, aber nicht weiter erstaunt, als sie weiterliefen und in den grossen Raum mit den alten Stahltanks und Holzfässern für die Weinlagern kamen. Dieses Mal knipste Häusermann das Licht an. Hell erleuchteten die Quecksilberdampflampen die Lagerstätte. Schläuche hingen fein säuberlich an Haken an den Wänden, die Verschlüsse lagen sauber gegliedert in einem Metallgestell, auf einem Tablar lagen Gummidichtungen und Zapfhähne. In der einen Ecke standen zwei Maischkessel. Alles war sauber aufgeräumt. „Was ist denn das“, fragte sie kess und zeigte auf einen roten Fleck am Boden, direkt vor einem Stahltank. Häusermann eilte herbei, kniete sich nieder und tupfte den Zeigefinger seiner rechten Hand in die Flüssigkeit. Er roch daran und hoffte, dass sich der Geruch nicht bestätigte. Behutsam tupfte er sich ein wenig davon auf die Zunge. „Das ist Blut.“ Er dreht sich in der Hocke zu Burgstaller. „Ruf die Spurensicherung. Irgend etwas ist hier faul“. Er stand auf, griff zu seiner Dienstwaffe, nickte seiner Assistentin zu. Diese zückte ebenfalls die Waffe, entsicherte und nahm sie in den Anschlag. „Joris Janssen, Kantonspolizei Aargau“, rief Häusermann durch den Raum und das Haus. Nichts. Samira rief die Spurensicherung, ehe sie weiter in Richtung Wohnhaus gingen. Sie durchkämmten das Haus von oben bis unten, immer mit der Waffe im Anschlag. „Gesichert“, bestätigten sie sich jeweils gegenseitig jedes Zimmer. „Nichts“, konsternierte Samira. „Ja, nichts. Gehen wir zurück“, meinte Kurt und verstaute seine Waffe wieder im Holster. Sie tat ihm gleich. „Irgendwie gruselig hier“, flüsterte sie. „Irgendwie sehr“, bestätigte Kurt. „Ziemlich morbide“, schmunzelte sie. Er nickte. Sein Mobiltelefon klingelte. Er blieb stehen, kramte nach dem Telefon. „Aare-Taxi“ war auf dem Display zu lesen. Er swipte: „Kurt Häusermann, Kripo Aargau“. Burgstaller sah ihn fragend an. „Aha, spannend. Gut, dass sie uns angerufen haben. Das hilft uns sehr.“ Er nickte ihr positiv zu und hielt den Daumen nach oben. „Danke für die Information“, beendete er äusserst freundlich den Anruf. „Wir wissen jetzt, wo die Frauen sind.“ „Machs nicht so spannend“, quängelte sie. Er lächelte sie an: „Du wirst es nicht glauben: Am Euroairport Basel.“